Eine Bildbetrachtung zum Hören und Mitlesen

Bevor ihr zu hören beginnt, öffnet den Link zur Fotografie. Dann könnt ihr das Bild gemeinsam mit mir betrachten. Hier gehts zur Fotografie von Loretta Lux: The Rosegarden

Ich beginne so, wie dieses Bild zunächst vielleicht auch erscheinen kann: Unschuldig und erstmal ohne konkret erkennbares Ziel im Sinne einer Aussage. Ich möchte diese Fotografie darum betrachten, ohne Vorwissen und ohne mich genauer informiert zu haben; möchte mir das Bild erschließen und später erst verstehen, wie es entstand.

Wir sehen hier eine Fotografie von der Fotografin Loretta Lux, quadratisches Format, zarte und pastellige Farben dominieren. Über dem Motiv scheint ein Filter zu liegen.

Ein Kind steht in einem Garten, es hat lange rote Haare, die bis über die Schultern reichen und die Bluse, rosa und grün, florales, folkloristisches Muster, Bubikragen, ist in einen kräftig-grünen Rock gesteckt. Eine viereckige Schnalle ziert den Bund, die auch der Mittelpunkt des Bildes ist.

Das Grün des Rockes ist das gleiche wie das auf der Bluse, es handelt sich wohl um ein Outfit, das zusammengehört, ein Twin Set. Die Pose des Kindes ist der Kamera zu- und gleichsam abgewandt, es steht etwas schräg, die rechte Körperhälfte neigt sich mehr nach vorne als die linke. Wir als Betrachter*in sehen weder die Hände noch die Füße des Kindes; sehr wohl aber, dass es blaue Flecke auf und unter den Knien hat. Dies ist ein Versprechen, es handelt sich um ein echtes Kind, das spielt und tobt und menschlich ist, da eben auch verletzlich. Die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt und hinterlassen den Eindruck der Ruhe und Entschlossenheit, aber auch des Abwartens.

Der Blick des Kindes ist, genauso wie der Kopf, nach rechts geneigt, die Augen blicken nicht in die Kamera, sondern fixieren etwas, das außerhalb liegt. Der Blick ist ernst, die Mine des Kindes ebenso. Ob die Mundwinkel entspannt sind oder nicht, lässt sich nicht gewiss feststellen; nur, dass das Kind eben nicht lacht. Nun ließe sich fragen, was das Kind wohl denkt, ob es träumt oder grübelt oder so tut, als ob.

Die Haare trägt es offen und ungekämmt, eine Strähne liegt über dem Gesicht. In dem ordentlichen Kostüm steckt ein unordentliches Kind. Unordentlich im Sinne von: es ist lebendig und erlebt genügend, um zerzauste Haare und angeschlagene Knie zu haben.

Was wir in diesem Bild in Gestalt des Kindes sehen, ist also auch und vor allem Kontrast.

Nun möchte ich die Umgebung betrachten…

Ein links und rechts von Steinen gesäumter, angelegter Sandweg führt durch einen Rosengarten, der verwildert und kontrolliert zugleich wirkt. Während rechts die Blumen über die Wegbegrenzung hinauswachsen und die Ordnung stören, wurde links im Bild dafür gesorgt, dass die Gartenerde von sogenanntem Unkraut befreit wurde.

Rosenbüsche wachsen in grün und rosa, die gleichen Farben und ja auch in gleicher Aufteilung, wie das Kind sie trägt, vorn und weiter hinten im Bild.

In einer Unterhaltung über das Motiv im Internet sagt jemand zu mir: „Das Kind ist der Garten“ und ich antworte: „Ja, beides ist im Wachstum“.

Dicht und hoch scheint der Garten bewachsen zu sein und erinnert an „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett. Ein Kinder- und Jugendbuch, in dem ein Mädchen einen verwilderten, hinter Mauern versteckten Garten erschließt.

Der Garten auf dieser Fotografie wird von verwitterten Mauern eingeschlossen, die hinter dem Kind zusammenlaufen oder auch nicht, das bleibt ungewiss. Der Weg könnte unendlich sein oder abrupt enden, die Mauer könnte zerstört sein oder einen weiteren Durchgang offenbaren. Alles, was hinter dem Kind stattfindet, bleibt uns verborgen.

Der Himmel ist blau, aber größtenteils bewölkt, es sieht nicht zuletzt wegen der Kleidung des Kindes nach einem warmen Tag im Sommer aus; und schließlich blühen auch die Pflanzen.

Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass diese Fotografie bearbeitet wurde. Von der Mitte geht eine Symmetrie aus, die bei aller Gleichheit auch verfremdet aussieht.

Nun möchte ich lesen, was es mit dieser Fotografie auf sich hat und suche dazu mehrere Internetseiten auf.

Ich erfahre, dass Loretta Lux 1969 in Dresden geboren wurde, dort war es ihr in der DDR nicht gestattet, Kunst zu studieren, schließlich studierte sie in den 1990er Jahren in München Malerei und Grafik.1 In einer Künstlerinnenbiografie sagt das Internationale Kunsthaus Ketterer Kunst über Lux und ihre Arbeiten:

„Am Ende des Jahrtausends beginnt Loretta Lux, sich mit der Fotografie zu befassen. Nach ersten Versuchen im Selbstporträt findet Loretta Lux bald ihr bevorzugtes Motiv: Kinder. In künstlich übersteigerter, altmeisterlich anmutender Inszenierung zeigt sie ihre Modelle. Mit Kombinationstechniken aus Fotografie, Malerei und digitaler Bildbearbeitung schafft Loretta Lux eindrucksvolle und in ihrem Realismus gleichsam surreale Bildwelten. Die wie verzauberte Stille, die tiefe Psychologisierung und die seelische Vereinzelung, die in diesen Werken spürbar wird, kann deutlich an der Porträtmalerei der Neuen Sachlichkeit anknüpfen. In frühen Kinderporträts zeigt Loretta Lux ihre Modelle vor blauem Himmel […]“2

Lux selbst sagt: „Meine Fotografien handeln von Kindheit und Verlorenheit in der Welt als existenzielle Grunderfahrung des Menschen.“3

Auf ihrer eigenen Homepage ist diese Fotografie mit „The Rosegarden“ betitelt und stammt aus dem Jahr 2001. In einer Ausgabe der britischen Zeitung „Telegraph“ vom 12. März 2005 sagt sie, auch im Kontext dieser Fotografie und der Arbeit mit Kindern als Fotomodelle: „I never allow them to wear their own clothes. My work isn’t about these children. You can recognise them, but they are alienated from their real appearance.”4 Und das erklärt den Eindruck, der beim Betrachten entsteht. Die Kinder auf ihren Arbeiten sind abgebildet und da, aber irgendwie sind sie auch entfremdet von der realen Welt.

Das Kind auf dieser Fotografie trägt übrigens authentische Kleidung aus den 1970er-Jahren, der Rock gehört Lux‘ Mutter, es ist ein Mädchen, sie heißt Emily und ihre blauen Flecke sind echt.5

Die eben beschriebene Spannung von Echtheit und Verfremdung entsteht nicht zuletzt aufgrund dessen, dass Lux ihre Arbeiten stark digital nachbearbeitet. Sie geht dabei folgendermaßen vor:

Sie wählt eine der vielen hundert Fotografien aus, die sie von Kindern angefertigt hat und arrangiert diese digital auf einem Hintergrund. Dieser wurde von ihr gemalt oder andernorts auf Reisen fotografisch aufgenommen. Collagenartig setzt sie die einzelnen Elemente zusammen, arrangiert so lange, bis es passt. Schließlich reguliert sie die Farben und gibt allem etwas Pastelliges hinzu.  Mit dieser Arbeitsweise, so Inka Graeve-Ingelmann, Kuratorin, markiert Loretta Lux eine Wende und das Ende typisch deutscher Dokumentartradition.6



[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Loretta_Lux, 30.06.2019

[2] https://www.kettererkunst.de/bio/loretta-lux-1969.php, 30.06.2019

[3] https://www.hatjecantz.de/loretta-lux-1547-0.html?article_id=1547&clang=0, 30.06.2019

[4] Telegraph.co.uk, 2015, S. 5

[5] https://mondaymuseum.wordpress.com/2014/02/14/lorreta-luxs-rose-garden/, 30.06.2019

[6] Vgl. Telegraph.co.uk, 2015, S. 4

Musik im Beitrag:
Creepy Comedy by Rafael Krux
Link: filmmusic.io/song/5625-creepy-comedy-
License: filmmusic.io/standard-license

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