Es ist wieder soweit, der 27. September erinnert an den Tag im Jahr, an dem Schriftstellerin Christa Wolf ihr Leben so genau wie möglich beschrieben hat. Über vier Jahrzehne hat Wolf einen persönlichen Blick auf ihr Leben und das politische Geschehen notiert und damit ein Zeitzeugnis geschaffen. Die Autorinnen Susanne Hösel und Christina Müller veranstalten jährlich das Tagebuchprojekt Ein Tag im Jahr und laden schreibende Menschen ein, ihren Beitrag für das Projekt zu leisten. Auch in diesem Jahr darf ich dabei sein und freue mich außerordentlich.
Was mich in diesem Jahr besonders berührt:
Schon 2022 hielten mir nahestehende Menschen ihren Tag fest und ich war ultrahappy, meinen Text neben ihren zu sehen. Die Texte von Michael Held, Sonja Seidl und Morton Tartas (💜) beeinflussen auch mein Schreiben, weil sie Teil meines Lebens sind. 2023 schreiben nun zwei Autor*innen aus dem Lüneburger Wortkollektiv mit. Kathi Schmidt und Lukas Kretschmer sind meine Freunde und unsere Wege kreuzen sich so oft es geht. Nun auch dort.
27. September 2023 – von Jess Tartas
Als mein Smartphone vom Nachttisch fällt, wache ich auf. Ich spüre in mich hinein. Noch tut nichts weh. Gestern stieß ich mich, es wird eine Prellung sein, denn Auftreten oder mit den Zehen wackeln schmerzt. Noch aber fühle ich nichts, meine Boten ruhen. Dieser Moment zwischen Schlafen und Wachen ist ein Geschenk. Ich scrolle mich durch Bluesky. Nachfaven geht nun wieder. Dann stehe ich auf.
Der Schmetterling, der gestern in meine Schreibtischschublade flog, ist dort noch immer. Er hängt da wie eine Fledermaus und senkt seinen Herzschlag, damit er den Winter entspannt verbringen kann. Problem: Er wird da nicht bis zum Frühjahr schlafen können. Noch ist es hier kühl, aber irgendwann beheizen wir diesen Raum. Ab einer Temperatur von etwa 12 Grad wird er wach, findet jedoch nichts zu fressen. Ich werde ihn noch eine Weile schlummern lassen, aber irgendwann muss er in eine kühlere Ecke umziehen. Vielleicht fliegt er aber auch die Tage einfach wieder weg.
Morton hat arte Tracks geschaut. Es ging in der Folge um Russland und das Leben zu Zeiten des Kriegs. Ich möchte das gerade nicht hören, er erzählt mir nichts. Das ist sehr achtsam. Mein Fuß beginnt zu schmerzen. Ich will schreiben und öffne meinen Newsletter.
Mein Vater ruft an, wir unterhalten uns über seinen Filmclub und legen bald auf. Die Sonne heizt die Wohnung, dem Schmetterling geht es gut.
Mort und ich planen unseren Herbsturlaub. Ich rufe dafür meine Kollegin an, die ich für fünf Wochen nicht sprechen konnte. Ich freue mich, sie zu hören. Ich kann locker für zwei Wochen wegbleiben. In mir sitzt der Wunsch, woanders zu sein. Nur wohin ich möchte, das weiß ich noch nicht.
Ich packe meinen Rucksack und fahre zu Kathi. In ihrer Küche hält sie mir ihr Smartphone hin, ich soll mir einen Kaffee aussuchen, den wir im Coffeeshop abholen können. Vegan Iced Vanilla Coffee mit Sahne und Karamelldingsi zum Mitnehmen, bitte. Wir machen einen Schlenker und sitzen wieder in der Küche. Dann schreiben wir bis wir Hunger bekommen. Kathi zaubert magische Cannelloni, ich esse sie zum ersten Mal in meinem Leben und wünsche mir einen Magen ohne Boden. Morton kommt dazu, wir lachen und schreiben und snacken und weil ich mir einen ewigen Magen wünsche, sprechen wir über Kuhmägen und denken uns ein Konzept für ein Lokal mit dem Namen ‚Pansen‘ aus. Jeder Dancefloor ist ein Kuhmagen, es gibt nur Milchgetränke, es wird nicht gekotzt, sondern wiedergekäut und wer im Kuhkostüm kommt, darf kostenfrei rein. Wir lachen und schreiben bis wir nicht mehr können.
Die Nacht ist lauwarm. Vor der Spielothek nimmt uns ein Mann ins Visier und wirft uns ein paar Worte hin. Wir wechseln die Straßenseite, der Mann geht weiter und legt sich mit dem Mond an. Auf dem Weg zum Marktplatz sehen wir ein Auto an einer Fahrradfahrerin vorbeisausen und hören ein lautes Scheppern. Ich denke sofort, dass sie angefahren wurde und wir beeilen uns. Ich präge mir die Kennzeichennummer des davonfahrenden Autos ein. Bei der Frau angekommen, helfen bereits einige andere. Darunter ist eine Bekannte von mir, ich freue mich, sie zu sehen. Es stellt sich heraus, dass die Frau gestürzt ist, weil ihr Lenkrad locker saß. Morton vergewissert sich, dass sie orientiert ist und alle ziehen weiter.
In der Senke zwischen Berg und See herrscht eine kühle Atmosphäre. Zwischen den Feldern ist es dunkel und ruhig, einzelne Fledermäuse umkreisen die wenigen Laternen. Zu Hause wird mir klar, wie früh ich am nächsten Morgen aufstehen muss und will mich mit dem Versenden des Tagebucheintrags beeilen. Doch seitdem der Schmetterling in meiner Schublade schläft, überkommen mich Erinnerungen. Es duftet nach warmer Holzverkleidung und dem kühlen Stein der Blumenfensterbank. Früher flogen oft Schmetterlinge im Arbeitszimmer meiner Oma umher. Es war für uns normal, sie zu sehen und zu begleiten. Einmal habe ich einen ‚ausgebrütet‘ und im Frühjahr freigelassen.
Auf Bluesky lese ich, auf dem Klimakongress in Hamburg hieß es, die Menschheit hätte die Chance auf Stabilisierung des Weltklimas verpasst. In einem Zeit-Artikel dazu steht, wenn wir uns auf die Folgen des Klimawandels einstellen, kann Deutschland auch in 50 oder 100 Jahren noch lebenswert sein.
Downer. Ich sehe nach, ob der Schmetterling noch schläft. Ja. Dann gehe ich selbst zu Bett und halte den Gedanken an den kleinen Impact, den ich haben könnte, fest wie ein Kissen und schlafe bald ein.