Mein liebes Gespenst,
viele Dinge wurden im vergangenen Jahr verschoben. Es ist so, dass mir nicht nur die Dinge verschoben vorkommen, sondern mir kommt alles verschoben vor. Von der einen Seite auf die andere verfrachtet, in der Eile beiseite gedrängt, gebracht, zugedeckt, in Ruhe gelassen und seitdem liegt es da. Unter einer Decke des Schweigens, wie aufgeladen.
Das ist es, was mal eine Freundin zu mir sagte, als ich sie in ihrer kleinen Einzimmerwohnung in der Innenstadt besuchte. Ich klingelte zwanzig Minuten vor der verabredeten Zeit an ihrer Tür, sie war noch nicht fertig damit, aufzuräumen. Lächelnd öffnete sie mir, bat mich in ihr Zimmer und warf alle Dinge, die sie noch hätte wegräumen wollen, auf einen Haufen und breitete darüber eine Decke aus. Sie nannte sie die „Decke des Schweigens“ und ich habe bis heute nicht vergessen, dass darunter alles lag, womit sie sich noch hätte beschäftigen wollen. Was wir an dem Tag noch so taten, weiß ich hingegen nicht mehr.
Manchmal lüfte ich die Decke 2020/2021 und erschrecke beim Anblick aller verschobenen Dinge. In mir zieht sich dann etwas zusammen, Körpermitte. Mein Herz tut auch ein wenig weh. Und ich frage mich, ob die Dinge jemals wieder ihren Platz einnehmen können. Ob ich alles einmal in die Hand nehmen, besehen und mich damit beschäftigen kann oder ich nur ewig daran denken werde.
Heute lugte ein Zipfel deines Lakens unter der Decke hervor und ich packte zu. Nun sitzen wir hier am Küchentisch, rote Decke, grüne Ranken. Ein Kranz aus Ästen, Kerzen, einige Bücher um uns herum. Meine Körpermitte knirscht. Ich frage mich, ob das der Anfang vom Zurückschieben ist. Schließlich begann ich, dir bereits vor einem Jahr zu schreiben und dann – Decke des Schweigens. Verschoben. Ich konnte keine Briefe mehr schreiben und du hast mir auch nicht mehr geantwortet. Ich schätze, die Dinge haben ein Eigenleben; für sich. Selbst dann, wenn wir sie beiseite geworfen und zugedeckt haben. Und so überraschst du mich mit deiner Leichtigkeit, mein liebes Gespenst.
Während ich dir schreibe, komme ich einer Sache wieder näher. Ich greife zurück und verflechte die Gegenwart mit dem, was war und lasse zu, dass wir die Geschichte weitererzählen.
Nun genügt es jedoch, ich kann nicht mehr. Wenn du möchtest, dann geh wieder unter die Decke oder bleib noch ein wenig am Tisch. Es ist dir freigestellt.
Nun fehlt noch ein Schluss am Ende des Briefes. So würde es (m)eine Redakteurin an dieser Stelle kommentieren und ich würde es verstehen und so einen hübschen Schluss formulieren. Doch ich verschiebe das. Es ist Ende 2021, Schlusssätze sind mir heute ganz egal.
Deine Jess