Einen Tag, nachdem ich mit meinem Schreibtisch auf den Dachboden zog, saß ich unter dem Fenster und dachte nach. Es war irgendwas bei halb elf und ich hatte gut zu tun. Gerade saß ich an einem Text für das Benjamin Blümchen-Magazin und meine Kollegin und ich steckten mitten in den Plänen zur Renovierung des neuen Kulturzentrums (wir haben noch keinen Namen, wollen uns aber im Februar festlegen. Es ist ein … Prozess 😅), also geisterten mir immer wieder auch Gedanken an Wandfarben und Schleifmaschinen durch den Kopf. Ich dachte aber auch daran, dass ich schon längst ein Telefonat führen hätte können, wenn ich nur nicht so wenig Lust dazu hätte, mich zu unterhalten. Klingt nach einem First World-Problem, beschäftigt aber ganz offenbar nicht nur mich allein, sondern trifft einen Nerv.
Wie gesagt: Ich wollte einfach nicht telefonieren. Also tat ich jede Menge anderer Dinge. Ich schrieb, sah auf die Uhr, überlegte, was ich am Telefon sagen könnte, welche Antworten möglich wären, schrieb noch etwas, machte mir ein Brot, sah aus dem Fenster, dachte wieder an das Telefonat und daran, dass sich die Zeit vor und nach aufgeschobenen Anrufen immer etwas merkwürdig anfühlt.
Also schrieb ich
09:00 – 13:00 Mich auf ein Telefonat vorbereiten
13:00 – 13:03 Telefonat
13:04 – 17:00 Erholen vom Telefonat
und veröffentlichte es auf Twitter. Es dauerte keinen Tag und über 10.000 Menschen hatten ihn geliked. Er wurde geteilt, kommentiert und verschiedene Medien-Accounts fragten an, ob sie mich zitieren dürften. Unter anderem der WDR. Ziemlich aufregend, huh.
Wenn Tweets viral gehen, dann entwickeln sie manchmal ein Eigenleben. Als Verfasser*in kann man da nur zuschauen und sich freuen und ein bisschen wundern. Viele Menschen haben sich unter meinem Tweet über ihre Erfahrungen mit Angststörungen und Depressionen unterhalten. Offenbar geht es für Menschen nicht nur darum, nicht telefonieren zu wollen, sondern nicht telefonieren zu können. Es wurde kritisiert, dass viele Institutionen zu wenige Wege der Kommunikation anbieten, obwohl ein Bedarf besteht. Es braucht die Möglichkeit, Kontakt per E-Mail oder Messenger aufzunehmen, und es muss genauso normalisiert werden, wie eine Kontaktaufnahme per Telefon. Eine schriftliche Kontaktaufnahme hat den Vorteil, dass der Mensch, der Kontakt aufnimmt, dies aber ungern per Telefon tut, so in Ruhe überlegen kann, was er*sie mitteilen möchte. Kommunikation kann so ohne Zeitdruck geschehen und es entsteht keine Not, unmittelbar reagieren zu müssen. Vielen Menschen kann dies den Weg zu mancher Institution oder Praxis oder einem Termin erleichtern.
In dem oben erwähnten Kulturzentrum, das meine Kollegin und ich seit Dezember leiten, arbeiten wir inklusiv und barrierefrei. Der Raum ist bereits entsprechend gestaltet und umgebaut und wir werden Angebote und Veranstaltungen so einrichten, dass sie möglichst wenige und bestenfalls keine Hürden aufweisen. Wir werden auch darauf achten, Anmeldungen zu unseren Workshops und Kursen per E-Mail zu ermöglichen; ganz neben dem klassischen Telefon natürlich. Mir ist es wichtig, dass Menschen sich gerne mit mir in Verbindung setzen und nicht stundenlang darüber nachdenken und es am Ende gar nicht machen, nur weil das Mittel zu belastend ist. Das hätten wir von Anfang an so gemacht, ob ich den Tweet geschrieben hätte oder nicht. Aber ich werde in Zukunft noch mehr beachten, darauf hinzuweisen, wie viele verschiedene Wege zu uns führen und dass jeder davon in Ordnung ist.