Im Gespräch mit… der Literaturübersetzerin Alexandra Kranefeld

Liest man ihren Twitterfeed, wird auf den ersten Blick nicht klar, dass sie als Übersetzerin arbeitet. Muss es ja auch gar nicht, nicht jede*r erzählt nüchtern vom Alltag, sondern wählt lieber eine andere, literarische Form. Alexandra nutzt Twitter literarisch und schreibt mal prägnant und mal verschlungen, überspitzt und manchmal schief.
Doch sobald man um ihren Beruf weiß, entfaltet sich vor einem eine weitere Lesart, eine neue Ebene der Deutungsmöglichkeit ihrer Kurzprosa. Sie schreibt vom Unfertigen der Form und kreativen Distanzen zum Text. Der Bezug zu ihrer Arbeit ist plötzlich sehr präsent. In ihrer Bio heißt es schlicht: Alexandra Kranefeld liest, lebt und übersetzt. Und darum geht es auch in diesem Interview.

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Der Satz, der meine Arbeit zurzeit am besten beschreibt, könnte lauten…

Im Augenblick muss ich mich sehr disziplinieren, der Text ist etwas widerständig und bei zweien der vier Figuren, aus deren Perspektive erzählt wird, muss ich teils sehr gegen mich anschreiben. Das kann eine gute Übung sein, erhellend, ja inspirierend, aber wenn die Zeit drängt, ist es eben auch anstrengend – das sind schon zwei Sätze, gleich drei – und bei aller Disziplin und Bergarbeit das Freischwingende nicht verlieren, also eine kleine Tour de force wiederholter Überarbeitungen, idealerweise mit zeitlicher Distanz.

Also: Am und beim Text bleiben, auch wenn es schwerfällt.

Die Motivation für meine Arbeit erhalte ich mir, indem…

… ich lese, lese, lese, auch und gerade Übersetzungen. Und mit weit offenen Ohren durch die Welt gehe. Eigentlich bin ich viel eher ein visueller Mensch, aber beim Übersetzen merke ich immer wieder, wie stark ich von meinem akustischen Gedächtnis zehre. Ein guter Grund auch, mehr Filme zu schauen, am besten OV und Synchronisation, wenn auch nicht immer in dieser Reihenfolge.

Das Beste, was mir zuletzt mit meiner Arbeit passiert ist…

Hörbuchfassungen. Ich liebe es, meinen Text von jemand anderem gesprochen zu hören, auch das letztlich eine Form von Distanz und Anverwandlung.

Und jeder tolle Auftrag, jede konstruktive Rezension, Feedback von Lektorinnen, das mich freut und von dem ich lernen kann. Überhaupt Resonanz, dieses Gefühl, nicht im luftleeren Raum zu arbeiten, zu sehen, wie der Text, das Buch hinausgeht in die Welt. Ein Preis wäre toll, tendenziell steigende Seitenhonorare. Ganz banal und materiell: Die Ausschüttung der VG Wort fiel diesen Sommer sehr erfreulich aus und das fand ich ziemlich prima.

Alexandra Kranefeld aus der Sicht Ihres aktuellen Manuskripts. Foto: privat

Wer inspiriert dich aktuell besonders?

Ich hatte kürzlich Blond von Joyce Carol Oates gelesen, diese mehr oder minder fiktive Anverwandlung des Lebens Marilyn Monroes, nachdem es Jahre ungelesen bei mir im Regal gestanden hatte, weil ich dachte, es sei lang, zäh und fragmentarisch, doch weit gefehlt, es ist großartig! Dieser unglaubliche Sound, der das ganze Buch trägt und vorantreibt (übrigens drei Übersetzerinnen und keine erkennbaren, nicht im Text angelegten Brüche). Diese frei schwebende Annäherung ans Sujet. Und die Bezüge zum Schauspiel, zu Stanislawski und den Kreisen der Aufmerksamkeit. Übersetzen ist für mich oft wie Theater ohne Bühne, daher hatte es einiges in mir zum Klingen gebracht.

(Es ist bei mir meist mehr ein ‚was‘ denn ein ‚wer‘ der Inspiration.)

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus, wenn du an Texten arbeitest?

Ich brauche den Morgen als Anlaufzeit, den halben Vormittag vertwittere ich und tue und mache, eine Mischung aus Prokrastination und Notwendigkeit. Um elf sitze ich am Schreibtisch, zwei Stunden später ist schon wieder Mittag, meine kreativste und produktivste Zeit ist meist der späte Nachmittag, um neunzehn Uhr ist Feierabend. Wenn mein Nacken sich verspannt, mein Kopf leere Schleifen dreht, lege ich kleine Meditationspausen ein, um Knoten zu lösen, auch solche im Text. Musik davor, danach oder dazwischen, beim Übersetzen brauche ich Stille, beim Überarbeiten erst recht.  

Was würdest du mit deiner Tätigkeit gerne noch erleben?

Ich hätte gerne Zeit, Energie und Geld, kurzum Ressourcen, um mich für eines meiner Projekte auf Recherchereise zu begeben, den Weg der Protagonisten abzuschreiten, die Orte zu erkunden, all das, was ich stattdessen mit Google Maps etc. mache.

Wieso/weshalb/warum empfiehlst du jungen Leuten, es in deinem Metier als Übersetzer*in zu versuchen?

Ihr könnt eure Freude an der Sprache, am Schreiben und Fabulieren ausleben, ohne euch alles selbst ausdenken zu müssen, also die Figuren, den Plot, das Fleisch. Sich an einem vorgegebenen Text stilistisch abzuarbeiten, kann ein Korsett sein, aber auch sehr befreiend. Fremdheitskompetenz, das Eigene im Anderen und vice versa – und jetzt verliere ich mich langsam in Stichworten und überlasse das Ausformulieren und die weitergehende Zwiesprache mit dem Text den geneigten Leserinnen und Lesern.

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Ihr findet Alexandra Kranefeld als @greenishglass auf Twitter. Ihre Übersetzungen, wie zum Beispiel Ich, Eleanor Oliphant und Morgen schreib ich dir ein Happy End, erscheinen regelmäßig in verschiedenen Verlagen.

Worte des Danks, weil sie so schön sind.
Danke für das Gespräch, liebe Jess, es war und ist mir eine Freude; Vorhang und Fadeout, um im obigen, hier leicht schief geratenen Bild zu bleiben.
Und ich danke Dir, liebe Alexandra, für das inspirierende Gespräch und deine offenen Antworten zu Deinem spannenden Arbeitsalltag.

Containerliebe – Phillip Boa and the Voodooclub – Konzertbericht

Phillip Boa and the Voodooclub spielte 2008 in unserer Stadt. An die Vorbands erinnerte ich mich schon nicht mehr, ich musste sie eben googeln. Es waren Transmission (The Sound of Joy Division) aus Birmingham und On The Floor aus Hamburg. Sicher waren sie gut, allerdings kann es auch sein, dass ich sie gar nicht sah. 2008 ist lange her und der Tag erscheint mir ein schneller und verwischter gewesen zu sein. Trotzdem möchte ich erzählen, wovon ich noch weiß.

Phillip Boa war wohl schon immer mit Lüneburg verbunden. Meine Freundin wohnte damals in der Innenstadt über einer Videothek. Der Besitzer des Ladens war etwas kauzig und in den 80ern ein Grufti gewesen. Und er war ein guter Freund von Boa, hieß es. Darum kam er auch zu uns nach Lüneburg und spielte in der Disco, in der es immer am lautesten und am schönsten war.

Screenshot vom Eintrag zum Konzert in meinem ersten Blog

Als ich vom Konzert erfuhr oder den Entschluss fasste, hinzugehen, war es genau dieser Tag, an dem es stattfand. Ich weiß noch, wie ich meine Freundin Nies anrief, sie fragte, ob sie mit mir hingehen würde und dann die darauffolgenden zwei Stunden mit der Vorbereitung verbrachte. Irgendwas war an dem Tag, ganz vage weiß ich es noch. Wahrscheinlich ein Geburtstagsfest oder ein Auftritt mit dem Chor und wir baten schließlich jemanden aus Nies‘ Familie, uns am Abend zur Garage zu fahren.

Die Garage war eine Disco im Industriegebiet, die 2021 wegen der Corona-Lage schließen musste. In meiner Schreibtischschublade liegt ein Stück herausgebrochenes Mauerwerk von ihr. Wir haben dort schließlich unsere Jugend verbracht.

Als Nies und ich ankamen, hatten wir keine Tickets, sondern kamen so rein. Wir gingen an der Kasse vorbei, durch den kurzen Bereich zwischen Eingang und Garderobe. Von dort konnte man die Musik schon hören. Wir gaben unsere Jacken ab, gingen am Tischkicker vorbei und durch den ersten Raum, in dem es immer etwas kühler war. Hier war auch der Aufang zum zweiten Floor und zum Bistro und ein Nebenausgang führte in den rumpeligen Strandgarten. Die Garage sah aus wie eine Garage im Industrieviertel eben aussah: Mitten durch das Gebäude führten die stillgelegten Bahnschienen einer alten Zeit. Ein ausrangierter Traktor stand herum (oder hing er von der Decke?), ein alter Kühlschrank bot die Möglichkeit, seine Jacke zu verstauen, wenn man kein Geld für die Gardeobe ausgeben wollte. Einmal vergaß jemand seine Jacke darin und fand sie einen Monat später wieder. Sie war die ganze Zeit im Kühlschrank geblieben. Tarnnetze trafen auf Stracheldraht und Metalltreppen klapperten aufregend, sobald man sie betrat. Es war eine perfekte Kulisse für alternative Konzerte und Partys.

Wir gingen durch den Torbogen, durch den auch ein kleiner LKW gepasst hätte und der die ruhigeren Vorräume vom großen Floor trennte. Dort waren die Wände bemalt wie das Innere eines Aquariums und rechts, links und über einem auf erhöhten Ebenen standen goldbeschienene Bars. Auf dem Weg zur Tanzfläche wurde man immer umarmt; von Menschen und den Nischen, die sich auftaten. Wir hielten uns links und betraten die kleine Plattform, auf der wir meistens saßen, weil man von dort den besten Blick hatte, aber selbst etwas unterging.

Phillip Boa sang bereits, glaube ich, aber wissen tu ichs nicht. Ich glaube fast, wie ich das hier schreibe, dass wir zur Party danach wollten und das Konzert einfach mitnahmen. Er war Phillip Boa auf der Bühne, energiegeladen und massiv in seiner Weise, sich und seine Musik darzustellen. Dabei empfand ich mich wie eine Beobachterin seiner Grenzen; ich glaube, er war nicht der freundlichste Mensch auf der Bühne und als sie Container Love spielten, kündigte er es so an: Und hier ist das Lied, für das ihr alle gekommen seid. Gar nicht so falsch, irgendwie. Schön, dass sie es spielten, es ist ein gutes Lied und wir freuten uns, es zu hören. Boas Musik ist eine Zeitreise in junge Sommer und klamme Winter vergangener Zeiten. Aus dem Bauch heraus will ich behaupten, dass sie auf den meisten Grufti-Partys gespielt wurde und darum immer Teil meiner Welt sein wird.

Ich weiß noch, wie fröhlich das Publikum war. Gruftis sind ja bei aller Tiefgründigkeit sehr lustig und feierwütig, da darf man sie nicht unterschätzen. Die Schwarze Nacht (eine Lüneburger Institution für Schwarzkittel zu dieser Zeit) platzte an diesem Abend aus allen Nähten. Ob Boa ein bisschen mitgefeiert hat? Ich konnte ihn nach dem Auftritt nirgendwo mehr sehen. Aber gefühlt hab ich ihn. Jetzt grad wieder.

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Vielen Dank an meine Twitterfreundin Isa für den Impuls zu diesem Artikel. 💜

Kindern von Kunst erzählen

Letzte Woche räumte ich mein Regal für Fachbücher auf (naja, ich bemühte mich darum) und dabei fiel mir das Buch „Gustav Klimt. Märchen aus Farbe“ von Stephan Koja in die Hände. In den letzten zwölf Jahren habe ich immer wieder mit Kindern und Jugendlichen zusammen gearbeitet und das in ganz unterschiedlichen Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit. Dabei bildete die Kunsterziehung und kulturelle Bildung immer wieder einen Schwerpunkt. Sogar so sehr, dass ich schließlich kulturelle & ästhetische Bildung studierte. Ich mag nämlich ganz besonders jene Momente, in denen sich Kunst und Bildung begegnen und Menschen selbst kreativ tätig werden oder sich intensiv mit Kunst beschäftigen.
Das Buch über Gustav Klimt nutzte ich einmal, um mit Kindern im Vorschulalter diesen Künstler besser kennen zu lernen und anschließend gemeinsam seinen Lebensbaum auf Packpapier zu malen.

Wenn man mit Kindern über Künstler*innen und ihre Kunst sprechen möchte, dann sind die kleinen Details wichtig, die die kunstschaffende Person für die Kinder zu jemandem Besonderen werden lassen.

Für die meisten Kinder ist es nicht sonderlich interessant, zu hören, welche Pinselform (rund, flach, gefächert, spitz, stumpf und so weiter…) die Künstlerin für ihre Malerei bevorzugt. Sehr interessant hingegen ist es, wenn die Künstlerin stets darauf besteht, Pinsel mit Borsten aus dichtem Maulwurfsfell zu verwenden.
Das mit dem Maulwurf habe ich mir jetzt nur ausgedacht, um meinem Punkt mehr Nachdruck zu verleihen. Wenn man mit Kindern spricht, sollte man sich so etwas nicht ausdenken. Außerdem muss man das gar nicht, denn die meisten Künstler*innen haben genügend Spleens, über die es sich zu reden lohnt. Wie zum Beispiel Gustav Klimt.

Im Folgenden ist eine kurze und kindgerechte schriftliche Vorstellung von Klimt als Mensch hinter den Bildern. Während man den Kindern von ihm erzählt (es ist ratsam, nicht zu sehr am Text zu kleben, sondern den Inhalt schon irgendwie aufgesogen zu haben, so dass man mehr erzählt und nicht steif vorträgt), kann man gemeinsam auf dem Boden ausgebreitete Bilder von ihm betrachten oder einen Bildband durchblättern.

Gustav Klimt ist Künstler. Er war ein Maler, der viele Bilder gemalt hat. Er wohnte zusammen mit seiner Mutter und zwei Schwestern in Wien, das liegt in Österreich. Jeden Morgen traf er sich mit seinen Freunden zum Frühstück. Er aß dann stets eine Portion Schlagsahne. Danach fuhr er mit seiner Kutsche in sein Atelier und arbeitete dort sehr lange an seinen Bildern. Gustav war ein sehr großzügiger Mensch. So gab er bedürftigen Menschen meistens eine Spende. Er war auch immer zu einem Scherz aufgelegt und sehr gesellig. Er hatte oft Besuch, ging gern Essen, dabei aß er immer zwei Portionen, und traf sich mit Freunden zum Kegeln. Während seiner Arbeit trug Gustav immer den gleichen Malerkittel, der selten oder sogar gar nicht gewaschen wurde. Auch liebte er Katzen sehr und hatte darum viele von ihnen in seinem Atelier. Wenn Gustav malte, dann malte er oft sogar an verschiedenen Bildern gleichzeitig und ließ sich dabei viel Zeit.

vgl. Stephan Koja: Gustav Klimt. Märchen aus Farbe.

Was habe ich gemacht? Aufgepasst:

  • Gustav Klimt ist Künstler, klar soweit. Er war Maler und zwar ein ziemlich produktiver. Er hat nicht allein gewohnt, sondern mit seiner Familie. Das heißt wohl, dass er ein ganz gutes Verhältnis zu ihnen hatte. Viele Kinder können das Zusammenleben mit Familie oder familienähnlichen Strukturen nachempfinden, das ist klasse. Denn so haben sie schon mal etwas mit dem Künstler gemeinsam.
  • Er aß Frühstück und zwar mit seinen Freundinnen und Freunden. Das ist ja nett! Wie in der KiTa. Und was aß er? Schlagsahne?! Wow.
  • Und dann fuhr er auch noch mit einer Kutsche. Das ist besonders. Zumindest für die heutige Zeit. Wer fährt schon Kutsche?
  • Er war großzügig, das zeigt, welch ein mitfühlender Mensch er außerdem war. Auch, dass er gern ausging und Besuch empfing, zeigt, wie gern er mit anderen Menschen zusammen war und sie offenbar auch gern mit ihm Zeit verbrachten.
  • Dann die Sache mit dem Malerkittel! Das war meistens ein Lacher für die Kinder. Kittel kannten sie aus der KiTa auch, und sich vorzustellen, dass ein erwachsener Mann immer den gleichen ungewaschenen Kittel trug, wirft ein ganz anderes Licht auf die Erwachsenen. Irgendwie unaufgeregt, oder?
  • Oh, und er kegelte gern, mochte Katzen und ließ sich viel Zeit beim Malen. Das sind ziemlich nahbare Eigenschaften, die den Künstler entmystifizieren und zu einem freundlichen Menschen machen, der viel mehr ist, als sein Genie und seine Kunstwerke.

Für Kinder ist es wichtig, etwas in den großen Menschen sehen zu können, das sie interessiert und auch ein bisschen amüsiert. Und ganz ehrlich: Wenn ich Schlagsahne in einer Glasschale sehe, muss ich hin und wieder an Klimt denken und stelle mir vor, wie er unter freiem Himmel mit seinen Freund*innen saß und sich gegönnt hat. Was ein Leben!

Wenn ihr also mit Kindern über Künstler*innen und ihre Kunst sprechen möchtet, dann schaut doch beim nächsten Mal nach den kleinen Besonderheiten, Ecken, Macken und Gewohnheiten, die euch selbst auch erheitern, wenn ihr über sie stolpert. Kaum etwas ist dröger, als schnöde Daten, wenn es um etwas so offenes wie bildende Kunst und ihre Erschaffer*innen geht. Also: Fragt euch, was die Künstler*innen gerne aßen, wo sie Urlaub machten und weshalb. Was ihr Hobby war, ob sie sich die Haare selbst schnitten, die Kleidung falsch herum trugen, sich mit Hunden umgaben, jodeln konnten oder sich gegen das Konzept von Wochentagen stellten. Irgendwas findet man immer, wenn man sucht, das ist so sicher wie die Zeitlosigkeit des Lebensbaumes.

Eine Bildbetrachtung zum Hören und Mitlesen

Bevor ihr zu hören beginnt, öffnet den Link zur Fotografie. Dann könnt ihr das Bild gemeinsam mit mir betrachten. Hier gehts zur Fotografie von Loretta Lux: The Rosegarden

Ich beginne so, wie dieses Bild zunächst vielleicht auch erscheinen kann: Unschuldig und erstmal ohne konkret erkennbares Ziel im Sinne einer Aussage. Ich möchte diese Fotografie darum betrachten, ohne Vorwissen und ohne mich genauer informiert zu haben; möchte mir das Bild erschließen und später erst verstehen, wie es entstand.

Wir sehen hier eine Fotografie von der Fotografin Loretta Lux, quadratisches Format, zarte und pastellige Farben dominieren. Über dem Motiv scheint ein Filter zu liegen.

Ein Kind steht in einem Garten, es hat lange rote Haare, die bis über die Schultern reichen und die Bluse, rosa und grün, florales, folkloristisches Muster, Bubikragen, ist in einen kräftig-grünen Rock gesteckt. Eine viereckige Schnalle ziert den Bund, die auch der Mittelpunkt des Bildes ist.

Das Grün des Rockes ist das gleiche wie das auf der Bluse, es handelt sich wohl um ein Outfit, das zusammengehört, ein Twin Set. Die Pose des Kindes ist der Kamera zu- und gleichsam abgewandt, es steht etwas schräg, die rechte Körperhälfte neigt sich mehr nach vorne als die linke. Wir als Betrachter*in sehen weder die Hände noch die Füße des Kindes; sehr wohl aber, dass es blaue Flecke auf und unter den Knien hat. Dies ist ein Versprechen, es handelt sich um ein echtes Kind, das spielt und tobt und menschlich ist, da eben auch verletzlich. Die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt und hinterlassen den Eindruck der Ruhe und Entschlossenheit, aber auch des Abwartens.

Der Blick des Kindes ist, genauso wie der Kopf, nach rechts geneigt, die Augen blicken nicht in die Kamera, sondern fixieren etwas, das außerhalb liegt. Der Blick ist ernst, die Mine des Kindes ebenso. Ob die Mundwinkel entspannt sind oder nicht, lässt sich nicht gewiss feststellen; nur, dass das Kind eben nicht lacht. Nun ließe sich fragen, was das Kind wohl denkt, ob es träumt oder grübelt oder so tut, als ob.

Die Haare trägt es offen und ungekämmt, eine Strähne liegt über dem Gesicht. In dem ordentlichen Kostüm steckt ein unordentliches Kind. Unordentlich im Sinne von: es ist lebendig und erlebt genügend, um zerzauste Haare und angeschlagene Knie zu haben.

Was wir in diesem Bild in Gestalt des Kindes sehen, ist also auch und vor allem Kontrast.

Nun möchte ich die Umgebung betrachten…

Ein links und rechts von Steinen gesäumter, angelegter Sandweg führt durch einen Rosengarten, der verwildert und kontrolliert zugleich wirkt. Während rechts die Blumen über die Wegbegrenzung hinauswachsen und die Ordnung stören, wurde links im Bild dafür gesorgt, dass die Gartenerde von sogenanntem Unkraut befreit wurde.

Rosenbüsche wachsen in grün und rosa, die gleichen Farben und ja auch in gleicher Aufteilung, wie das Kind sie trägt, vorn und weiter hinten im Bild.

In einer Unterhaltung über das Motiv im Internet sagt jemand zu mir: „Das Kind ist der Garten“ und ich antworte: „Ja, beides ist im Wachstum“.

Dicht und hoch scheint der Garten bewachsen zu sein und erinnert an „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett. Ein Kinder- und Jugendbuch, in dem ein Mädchen einen verwilderten, hinter Mauern versteckten Garten erschließt.

Der Garten auf dieser Fotografie wird von verwitterten Mauern eingeschlossen, die hinter dem Kind zusammenlaufen oder auch nicht, das bleibt ungewiss. Der Weg könnte unendlich sein oder abrupt enden, die Mauer könnte zerstört sein oder einen weiteren Durchgang offenbaren. Alles, was hinter dem Kind stattfindet, bleibt uns verborgen.

Der Himmel ist blau, aber größtenteils bewölkt, es sieht nicht zuletzt wegen der Kleidung des Kindes nach einem warmen Tag im Sommer aus; und schließlich blühen auch die Pflanzen.

Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass diese Fotografie bearbeitet wurde. Von der Mitte geht eine Symmetrie aus, die bei aller Gleichheit auch verfremdet aussieht.

Nun möchte ich lesen, was es mit dieser Fotografie auf sich hat und suche dazu mehrere Internetseiten auf.

Ich erfahre, dass Loretta Lux 1969 in Dresden geboren wurde, dort war es ihr in der DDR nicht gestattet, Kunst zu studieren, schließlich studierte sie in den 1990er Jahren in München Malerei und Grafik.1 In einer Künstlerinnenbiografie sagt das Internationale Kunsthaus Ketterer Kunst über Lux und ihre Arbeiten:

„Am Ende des Jahrtausends beginnt Loretta Lux, sich mit der Fotografie zu befassen. Nach ersten Versuchen im Selbstporträt findet Loretta Lux bald ihr bevorzugtes Motiv: Kinder. In künstlich übersteigerter, altmeisterlich anmutender Inszenierung zeigt sie ihre Modelle. Mit Kombinationstechniken aus Fotografie, Malerei und digitaler Bildbearbeitung schafft Loretta Lux eindrucksvolle und in ihrem Realismus gleichsam surreale Bildwelten. Die wie verzauberte Stille, die tiefe Psychologisierung und die seelische Vereinzelung, die in diesen Werken spürbar wird, kann deutlich an der Porträtmalerei der Neuen Sachlichkeit anknüpfen. In frühen Kinderporträts zeigt Loretta Lux ihre Modelle vor blauem Himmel […]“2

Lux selbst sagt: „Meine Fotografien handeln von Kindheit und Verlorenheit in der Welt als existenzielle Grunderfahrung des Menschen.“3

Auf ihrer eigenen Homepage ist diese Fotografie mit „The Rosegarden“ betitelt und stammt aus dem Jahr 2001. In einer Ausgabe der britischen Zeitung „Telegraph“ vom 12. März 2005 sagt sie, auch im Kontext dieser Fotografie und der Arbeit mit Kindern als Fotomodelle: „I never allow them to wear their own clothes. My work isn’t about these children. You can recognise them, but they are alienated from their real appearance.”4 Und das erklärt den Eindruck, der beim Betrachten entsteht. Die Kinder auf ihren Arbeiten sind abgebildet und da, aber irgendwie sind sie auch entfremdet von der realen Welt.

Das Kind auf dieser Fotografie trägt übrigens authentische Kleidung aus den 1970er-Jahren, der Rock gehört Lux‘ Mutter, es ist ein Mädchen, sie heißt Emily und ihre blauen Flecke sind echt.5

Die eben beschriebene Spannung von Echtheit und Verfremdung entsteht nicht zuletzt aufgrund dessen, dass Lux ihre Arbeiten stark digital nachbearbeitet. Sie geht dabei folgendermaßen vor:

Sie wählt eine der vielen hundert Fotografien aus, die sie von Kindern angefertigt hat und arrangiert diese digital auf einem Hintergrund. Dieser wurde von ihr gemalt oder andernorts auf Reisen fotografisch aufgenommen. Collagenartig setzt sie die einzelnen Elemente zusammen, arrangiert so lange, bis es passt. Schließlich reguliert sie die Farben und gibt allem etwas Pastelliges hinzu.  Mit dieser Arbeitsweise, so Inka Graeve-Ingelmann, Kuratorin, markiert Loretta Lux eine Wende und das Ende typisch deutscher Dokumentartradition.6



[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Loretta_Lux, 30.06.2019

[2] https://www.kettererkunst.de/bio/loretta-lux-1969.php, 30.06.2019

[3] https://www.hatjecantz.de/loretta-lux-1547-0.html?article_id=1547&clang=0, 30.06.2019

[4] Telegraph.co.uk, 2015, S. 5

[5] https://mondaymuseum.wordpress.com/2014/02/14/lorreta-luxs-rose-garden/, 30.06.2019

[6] Vgl. Telegraph.co.uk, 2015, S. 4

Musik im Beitrag:
Creepy Comedy by Rafael Krux
Link: filmmusic.io/song/5625-creepy-comedy-
License: filmmusic.io/standard-license

Im Gespräch mit… der Autorin Thekla Kraußeneck

An dieser Stelle führe ich Gespräche mit Menschen, die ich für ihre Arbeit bewundere. Mit einigen von ihnen bin ich befreundet, mit manchen kollegial verbunden. Eines ist aber immer sicher: ich schätze sie für ihre Arbeit und danke ihnen für die Inspiration, die sie für mich und viele andere sind.
Heute bin ich im Gespräch mit der Autorin Thekla Kraußeneck. Thekla lernte ich 2017 auf Twitter kennen, da erschien gerade ihr Roman Cronos Cube im LiesMich-Verlag. Wir begannen, uns regelmäßig miteinander zu unterhalten und wie es so ist, wenn es funkt: wir sind seitdem richtig gute Freundinnen geworden.

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Der Satz, der meine Arbeit zurzeit am besten beschreibt, könnte lauten…

Zurzeit stecke ich zwischen mehreren Projekten – ein Buch ist fertig, das nächste will begonnen werden, parallel konzipiere ich zwei neue Thriller –, weshalb ich kaum etwas anderes mache als zu lesen und zu grübeln.

Die Autorin Thekla Kraußeneck

Die Motivation für meine Arbeit erhalte ich mir, indem…

… ich in die Zukunft plane, sodass ich nach jedem Buch sofort eine neue Aufgabe habe. Ich arbeite eng mit meiner Agentin zusammen, was mir die nötige Sicherheit gibt. Und wenn das nicht reicht, dann darf ich auch einfach mal unmotiviert sein.

Das Beste, was mir zuletzt mit meiner Arbeit passiert ist…

… war die Veröffentlichung des letzten Bands von Cronos Cube am 8. April. Kurz zuvor habe ich den ersten Band meiner neuen Reihe beendet. Und dann ist mir auch noch klar geworden, welchen Weg ich als Schriftstellerin in den nächsten Jahren beschreiten werde. All diese Ereignisse teilen sich den ersten Platz.

Wer inspiriert dich aktuell besonders?

Ferdinand von Schirach und Andreas Brandhorst, und zwar sowohl durch ihre jeweiligen Eigenheiten als auch durch ihre fundamentalen Unterschiede. Das Magazin Spektrum der Wissenschaft inspiriert mich auch sehr, Monat für Monat.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus, wenn du an deinen Büchern arbeitest?

Einen typischen Arbeitstag gibt es bei mir eigentlich nicht. Aber im Großen und Ganzen ist es so: Ich schlafe aus, dann stehe ich auf, trinke Kaffee, nehme mein Ritalin und gehe an den Computer. Manchmal gehe ich aber auch zuerst in den Garten, oder ich passe auf mein Patenkind auf, das mit mir in einem Haus wohnt. Sobald ich wach und konzentriert bin, öffne ich das Manuskript und lege los. Ich habe keine festen Arbeitszeiten, aber ein Seitenpensum, das ich am Tag mindestens schreiben will.

Die Cronos Cube-Reihe von Thekla Kraußeneck, erschienen im Oetinger-Verlag.

Was würdest du mit deiner Kunst gerne noch erleben?

Vier ganz bestimmte Dinge: Ich wünsche mir, eines Tages ein Literaturstipendium zu erhalten und Mitglied bei PEN zu werden. Außerdem möchte ich zur Ortsrecherche nach La Réunion fliegen. Und ich möchte mir von Vorschüssen, Tantiemen und Honoraren eines Tages ein Cottage an der irischen Westküste kaufen.

Wieso/weshalb/warum empfiehlst du jungen Leuten, es in deinem Metier als Autorin zu versuchen?

Man lernt so vieles, vor allem über sich selbst. Zudem ist das Schreiben auf Dauer eine recht einsame Tätigkeit, so wie das Träumen. Du kannst anderen nur von deinen Träumen erzählen, sie ihnen aber nicht zeigen. Wenn du aber eine Geschichte schreibst und sie veröffentlichst, dann ist das wie eine Einladung in deine Welt. Und auf einmal gibt es lauter Menschen, die sich darin fast so gut auskennen wie du. 😊

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Mehr von Thekla gibt es auf ihrer Homepage, auf Twitter und YouTube, Instagram und Etsy, auf Twitch, … sie ist überall super, schaut vorbei und lasst ihr Kommentare da. ✨✍🏻

Händisches Schreiben

Als ich ein kleines Kind war, bekam ich ein Tagebuch geschenkt. Pro Tag nahm ich mir eine ganze Seite, egal, wie viel oder wenig ich schrieb. Ich grüßte das Tagebuch bei jedem neuen Eintrag, schrieb einen Satz zum Tag, malte etwas dazu und verabschiedete mich wieder.

Meine Oma sah ich viel schreiben. Sie komponierte als Musikerin Lieder für Klavier und Chor, schrieb Noten, Briefe, Konzertprogramme. Sie tat das handschriftlich auf verschiedenen Papieren. Großes und kleines Notenpapier, stark und robust, so dass wiederholt darauf radiert werden konnte. Sie notierte in Heften und Mappen. Überall im Haus lagen kleine Stapel Notizpapier für schnelle Gedanken. Formelle Briefe schrieb sie dann auf der Schreibmaschine. Später, aber wohl mehr zum Spaß an der Abwechslung, auch mal am Computer. Nun wird mir bewusst, während ich das hier schreibe (übrigens zunächst auch handschriftlich), dass ich wohl ganz ähnlich bin. Es gibt fast keinen Raum, in dem nicht irgendwo etwas Papier herumliegt und daneben mehrere Stifte, falls mal einer verlegt wird.

Das Schreiben auf Papier und mit der Hand ist sehr unmittelbar. Ich spüre, wohin es mich gedanklich zieht oder wie dringend es ist, etwas zu notieren. Rasch und eilig geschriebene Gedanken zu einer Figur lesen sich anders, als notwendig notierte Daten zu einem Ort. Meine Handschrift verrät dabei etwas über meinen Zustand während des Schreibens. Das kann die fertige Schrift am Computer nicht leisten.

Es gibt aber auch Geschichten, die ich gleich am Computer schreibe. Meine Mitlesegeschichten für Benjamin Blümchen entstehen zunächst in meinen Gedanken. Dann feile ich bei einem Spaziergang im Gespräch an ihnen und schreibe sie schließlich direkt am Computer auf. Die verlässliche Form der Schrift und Seitenränder hilft mir dabei, die Vorgaben des Magazins einzuhalten.
Und dann schreibe ich derzeit an diesem Kinderroman, der auch am Computer entsteht. Hier verändere ich viel am bestehenden Manuskript, stelle Sätze um, füge hier und da ein neues Wort ein. Die Arbeit daran ist meistens schön, aber auch sehr ernst.

So kommen mir Computer oft vor, sobald ein Schreibprogramm geöffnet wurde. Ernst und endgültig. Obwohl man ja schnell etwas löschen kann. Aber dann ist es eben weg und ich erinnere mich am Ende gar nicht mehr, weshalb ich einen Satz gelöscht habe. Manchmal ist es angenehm, den Prozess hinter einem Projekt noch erkennen zu können. Und dafür ist das handschriftliche Schreiben gut.

Ich möchte mich nicht zwischen der einen oder der anderen Form entscheiden müssen, sondern sie nach Anlass nutzen. Der Computer ist formeller und nicht ganz so verspielt, weich und nett wie es eine Kladde ist, die mitlebt, sich verbiegt, an den Ecken knickt und am Ende ganz zerzaust aussieht. Der Computer ist gut, um die Texte zu erledigen, sie zu bearbeiten, mit Seitenzahlen und Deckblättern zu versehen und sie schließlich abzusenden. Meine handschriftlichen Notizen, die sind eher noch für mich, nah dran und im Regal verstaut. Jetzt in diesem Moment, während ich diesen Eintrag aus meinem Morgenseitenbuch in das Schreibprogramm übertrage, bin ich umgeben von halb und total gefüllten Notizbüchern und erinnere mich daran, wie ich das eine oder andere aussuchte, mir genau überlegte, ob es zu der Zeit passt, die ich gerade erlebe. Ich mag es, wie bunt die Buchrücken dann über die Jahre ausgefallen sind, obwohl ich das nie gedacht hätte. Das Schreibprogramm ist immer gleich. Schön, diese Verlässlichkeit. Ich klicke jetzt auf Veröffentlichen.

Im Gespräch mit… dem Poeten Marcus Pöttler

Ich habe das große Glück, an dieser Stelle auf unbestimmte Zeit Gespräche veröffentlichen zu können, die ich schriftlich mit Menschen geführt habe, die ich für ihre Arbeit bewundere. Mit einigen von ihnen bin ich befreundet, mit manchen kollegial verbunden. Eines ist aber immer sicher: ich schätze sie für ihre Arbeit und danke ihnen für die Inspiration, die sie für mich und viele andere sind.
Heute bin ich im Gespräch mit dem Autor Marcus Pöttler. Ich lernte seine Arbeiten durch meine Schreibfreundin Julia Knaß kennen und konnte schnell nachvollziehen, weshalb sie ihn so gerne liest. Los gehts!

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Der Satz, der meine Arbeit zurzeit am besten beschreibt, könnte lauten…

Mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen, Notizbücher mit Textfragmenten füllen und auf den entscheidenden kreativen Impuls warten.

Die Motivation für meine Arbeit erhalte ich mir, indem…

ich weiterschreibe. Das Schreiben ist notwendig für meinen inneren Ausgleich. Es entstehen laufend Sprachbilder ohne mein Zutun im Kopf, da schwirrt dann oft viel herum. Durch das Aufschreiben lagere ich diese Dinge aus, damit ich sie nicht länger mit mir herumtrage. Das war schon in meiner Jugend so, lange bevor ich meine ersten Gedichte veröffentlicht habe, damals habe ich viele Briefe geschrieben und dieses Material dort eingearbeitet.

Das Beste, was mir zuletzt mit meiner Arbeit passiert ist…

Die vielen wundervollen Rückmeldungen zu meinem kürzlich erschienen Gedichtband „Echos“. Das Buch habe ich für meine Frau Irene geschrieben, die Gedichte darin handeln von der Liebe und sind alle an meine Frau gerichtet. Es ist sehr schön, zu erleben, wie diese doch sehr persönlichen Gedichte nun auch andere Menschen erreichen und berühren.

Echos von Marcus Pöttler ist kürzlich im Limbus Verlag erschienen.

Wer inspiriert dich aktuell besonders?

Momentan bin ich (wieder einmal) auf Entdeckungsreise durch das Werk von Friederike Mayröcker. Ihre Gedichte und Prosaarbeiten begleiten und inspirieren mich schon seit vielen Jahren. Zu ihren Texten kehre ich immer wieder zurück, in ihrer außergewöhnlichen poetischen Sprache kann ich mich wunderbar verlieren und treiben lassen.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus, wenn du an deinen Texten arbeitest?

Ich arbeite hauptsächlich an den Abenden und in die Nacht hinein. Man könnte sagen, es ist durch Beruf und Familie bedingt, die Wahrheit ist jedoch: ich bin eine Schreibe-Eule, war ich immer schon. In den späten Stunden gelingt es mir am besten mich zu konzentrieren, meistens höre ich Musik dabei (derzeit am liebsten die Post-Rock Band „Mogwai“). Das eigentliche Schreiben der Gedichte beginnt bei mir mit der Sichtung meiner Notizen. Oft habe ich mir bereits ein Thema vorgegeben und entwickle dann aus den Fragmenten einen Zyklus von Gedichten dazu. Mit den ersten Versionen meiner Gedichte bin ich selten zufrieden. Ich bin sehr pingelig mit einzelnen Worten und überarbeite meine Texte deshalb relativ oft. Dazwischen recherchiere ich viel zum Thema und zu verschiedenen Wortbedeutungen. Meine Gedichte sind eher reduziert und geprägt von Metaphern – mir ist wichtig, dass es darin kein zufälliges oder bedeutungsloses Wort gibt. Das alles ist ein eher langwieriger Prozess und am Ende solcher Schreib-Abende habe ich mit Glück vielleicht ein Gedicht fertig gestellt.

Der Autor Marcus Pöttler. Foto: privat.

Was würdest du mit deiner Kunst gerne noch erleben?

Dass Nick Cave Gedichte von mir vertont.

Wieso/weshalb/warum empfiehlst du jungen Leuten, es in deinem Metier als Autor:in zu versuchen?

Weil die Lyrik eine unglaublich vielfältige Ausdrucksform ist und es sehr befreiend sein kann, ein Gedicht zu schreiben. Ich schätze an der Lyrik auch die Bedeutungsoffenheit, das Spiel mit der Sprache und die Möglichkeit, mit wenigen Worten große Gedankenräume zu öffnen und intensive Gefühle zu vermitteln.

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Ich danke Marcus für das Gespräch und drücke ihm die Daumen, dass Nick Cave auf seine Gedichte aufmerksam wird! Mehr von ihm könnt ihr auf Twitter oder Instagram sehen.

Wie wird man eigentlich Autorin?

Im letzten Semester gab ich als Lehrbeauftragte in Lüneburg ein Seminar zu Fernsehserien. Das hatte erstmal nichts mit meinem Schreiben zu tun, dennoch sprach ich öfter mit den Studierenden über Seriendrehbücher, das Schreiben an sich und natürlich brachte ich mich als Dozentin auch mal persönlich ein. So erzählte ich vom Schreiben und meinen Projekterfahrungen. Am Ende des Semesters wünschte sich das Seminar von mir eine lockere Plauderrunde zum Abschluss. Wie schön! Ich habe die Studierenden also darum gebeten, mir vorab ihre Fragen zu mailen und auf eine Antwort waren ausgesprochen viele gespannt. Die Antwort auf die Frage, wie man eigentlich Autor:in wird.

Die Antwort darauf ist so einfach wie herausfordernd:

Man hört nicht auf zu schreiben.

Klar, irgendwann muss man anfangen. Bei mir war es so, dass für mich schon als Kind feststand, dass ich Schriftstellerin oder zumindest irgendwie eine freie Künstlerin werden wollte. Ich erinnere mich daran, wie ich mit sechs oder sieben Jahren in meinem Kinderzimmer stand, ein Hörspiel hörte und dachte: Das will ich auch. Hörspiele machen bringt bestimmt viel Spaß.
Am liebsten wollte ich natürlich alles übernehmen. Das Hörspiel schreiben, es einsprechen, die Musik und die Geräusche machen. Dass es für jeden dieser Bereiche Fachleute gibt, wusste ich natürlich noch nicht.

In dem Moment, in dem ich Schreiben lernte, begann ich, kurze Geschichten auf dem Papier zu erfinden. Dabei mussten alle möglichen Leute aus meinem Umfeld, egal ob real oder fiktional, als Figuren herhalten. Von Preußlers kleinen Hexe über meine Oma bis hin zu ALF waren sie vertreten. Meistens schrieb ich sie in kleine abenteuerliche Episoden hinein, die sich aber in den nächsten zwei Sätzen sogleich in eine friedliche Situationen auflösten. Ich konzentrierte mich also in meinen frühen Werken hauptsächlich auf den Spannungsbogen. 😉

Als ich einen Internetanschluss bekam, loggte ich mich zuerst im Chat ein, bastelte mir einen Blog, schrieb in Foren und habe sogar mal eines mitgestaltet. Irgendwann bekam ich eine kleine Stelle als Redakteurin bei einer Zeitung, dann machte ich ein Praktikum beim Radio. Kurz gesagt: Ich habe mich immer irgendwie auch schreibend fortbewegt und dabei viele Erfahrungen gemacht. Ich habe gelernt, was mir liegt und was mir nicht liegt. Ich habe gelernt, wie und worüber ich nicht schreiben möchte. Scheitern gehört bis heute auch dazu. Es kommt halt ganz darauf an, wie man sich dazu verhält (weitermachen, immer weitermachen).
Und das Hörspiel?
Bis heute höre ich liebend gerne und mit großer Freude Hörspiele auf Platte, Kassette, CD und online, so habe ich viel dazu gelernt, indem ich zugehört habe. Weil ich neben dem Singen auf der Bühne auch immer gerne Theater gespielt habe, habe ich unmittelbar viel über Sprache und Sprachwirkung in Räumen erfahren. Schließlich habe ich dann immer wieder selber Seminare und AGs zu den Themen Hörspiele und Theater konzipiert und geleitet. Und dann…

…habe ich im Herbst 2019 begonnen, ein Hörspieldrehbuch zu schreiben. Ich ließ es zwischendurch auch eine Weile ruhen, denn ich schrieb noch an meiner Masterarbeit. Doch gleich nach der Abgabe nahm ich das Schreiben wieder auf. Irgendwann war das Drehbuch fertig, ich fand die E-Mail-Adresse eines Ansprechpartners (man muss auch immer sehr viel suchen und probieren und warten) und schickte es ab. Der Rest ist ~geheim~. Vieles ist für eine lange Zeit geheim, wenn man schreibt.

Rückblickend auf die letzten 20 Jahre habe ich eigentlich immer an irgendwas geschrieben und hatte hier und da einen Text offen oder zumindest eine Idee. Dabei war es ganz gleich, ob es sich dabei um einen Blogeintrag, einen Tweet, eine Kurzgeschichte oder eine Erzählung handelte, denn es war immer auch ein Teil des Werdens. Und ich weiß genau, dass das auch niemals aufhören wird, weil es immer etwas gibt, das freigeschrieben werden will.

Das Autorinnenleben wird und ist gleichzeitig. Es ist immer wieder neu, immer wieder langwierig, immer wieder ein Prozess. Am besten beginnt man, Autor:in zu sein, indem man beschließt, es zu sein. Und dann legt man los.

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Ich kann mir vorstellen, dass viele mit dieser Frage auch oder eigentlich meinen: Wie wird man eigentlich ein:e Autor:in mit Vertrag? Aber darüber schreibe ich ein anderes Mal. Bis bald!